Warum die Niederländer in einer Stickstoffkrise stecken
Die Niederlande sind berühmt als „das kleine Land, das die Welt ernährt“. Das dicht besiedelte Land mit 17,5 Millionen Einwohnern ist der größte Fleischexporteur Europas und nach den USA der zweitgrößte Exporteur von Lebensmitteln weltweit. Der Tierbestand ist riesig – fast vier Millionen Rinder, 12 Millionen Schweine und 100 Millionen Hühner.
Dieser Handel kommt jedoch zu einem hohen Preis für die Umwelt. Das oberste niederländische Verwaltungsgericht stellte in 2019 fest, dass die Regierung gegen EU-Recht verstößt, weil sie nicht genug unternimmt, um den Stickstoffüberschuss in gefährdeten Naturgebieten zu reduzieren. Seitdem kämpft das Land mit einer sogenannten „Stickstoffkrise“.
Das Gerichtsurteil löste einen Schwall von Maßnahmen aus. Das Tempolimit auf Autobahnen wurde tagsüber auf 100 km/h gesenkt, tausende von gasfressenden Bauprojekten wurden gestoppt und ein neues Gesetz sieht vor, dass bis 2030 die Hälfte der Naturschutzgebiete gesunde Stickstoffwerte aufweisen muss.
Fluch und Segen
In den Niederlanden stammt die Stickstoffverschmutzung vor allem aus zwei Quellen: der Verbrennung fossiler Brennstoffe zur Energiegewinnung oder für den Verkehr (Stickoxide) und aus dem in der Viehzucht anfallenden Dung (Ammoniak und Distickstoffoxid). Stickstoffhaltige Kunstdünger sind ebenfalls eine Quelle der Umweltverschmutzung, sowohl während des Produktionsprozesses als auch bei übermäßigem Einsatz auf landwirtschaftlichen Flächen.
Stickstoff ist zwar für die Pflanzenwelt unerlässlich, stellt aber auch eine der größten Bedrohungen für die biologische Vielfalt dar. Die Stickstoffverschmutzung ermöglicht es, stickstofftolerante Pflanzen zu überleben und empfindlichere Pflanzen und Pilze zu verdrängen. Stickstoff ist löslich und kann sich auf Fische und andere Wasserbewohner auswirken. Er fördert das Pflanzenwachstum, einschließlich der Algenblüte, die Wasserläufe verstopft und Fische tötet.
Härtere Schritte
Es wurde bald klar, dass die getroffenen Maßnahmen nicht weit genug gingen. Im vergangenen Dezember kündigte die neue niederländische Koalitionsregierung an, den Viehbestand um ein Drittel zu reduzieren, um die Stickstoffbelastung durch tierische Abfälle zu verringern. Der kontroverse €24.3-Milliarden-Plan sieht vor, Landwirte entweder aufzukaufen, umzusiedeln oder sogar zu enteignen, wenn sie nicht bereit sind, zu verkaufen.
Der nächste harte Schritt fiel am 10. Juni, als die Regierung ihre Ziele vorstellte, die eine Reduzierung von Stickstoffemissionen von bis zu 70 Prozent an vielen Orten vorsehen, um die Natur zu schützen – oder wie es das Kabinett nannte, einen „unvermeidlichen Übergang“. In geschützten Natura-2000-Gebieten müssen diese Abgase sogar um mindestens 95 Prozent gekürzt werden.
„Wir müssen viel weniger Stickstoff ausstoßen, und leider stößt die Landwirtschaft sehr viel aus“, erklärte Christianne van der Wal, Ministerin für Natur und Stickstoffpolitik. „Sie haben sehr viel getan, um den Ausstoß zu verringern, aber das reicht leider nicht aus.“
Ärger mit den Bauern
Viele, wenn nicht alle Landwirte in den Niederlanden sind jedoch verärgert über die Pläne der Regierung. Obwohl viele Bauer die Vision der Umweltsanierung teilen, lehnen die meisten die umstrittenen Enteignungsmaßnahmen ab.
„Unsere Mitglieder sagen, es ist genug, die Grenze ist erreicht“, sagte Sjaak van der Tak vom niederländischen Landwirtschafts- und Gartenbauverband LTO Nederland. „Das bedeutet, dass wir geeignete Aktionen vorbereiten werden, um auf würdige Art und Weise deutlich zu machen, dass diese Pläne nicht akzeptabel sind.“
Am 22. Juni folgte eine große Demo in Stroe, einem Dorf zwischen Amersfoort und Apeldoorn, wo Hunderte von Landwirten mit ihren Traktoren die Verkehrswege verstopften. Am selben Tag bot das Finanzministerium eine Kompromisslösung an: Gezielte Aufkäufe von 5.000 Stickstoffverschmutzern, was viel billiger seien als die Verteilung des Leids auf den gesamten Agrarsektor.
Ein europäisches Thema
Andere europäische Länder haben auch Stickstoffprobleme, und die Regulierungsbehörden beginnen, hart durchzugreifen. Spanien beispielsweise wurde von der EU-Kommission im Dezember 2021 wegen mangelhafter Umsetzung der Nitratrichtlinie vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt. Auch in Teilen Deutschlands und Belgiens ist die Stickstoffbelastung sehr hoch, so dass Investoren mit ähnlichen Schritten rechnen können.
Solche Maßnahmen sowohl auf nationaler als auch auf supranationaler Ebene verdeutlichen das Regulierungsrisiko für Investoren, die Gelder in intensive Tierhaltungsbetriebe stecken.
Text: Jeremy Gray
Foto: Adobe Stock
Quellen: Europäische Umweltagentur, offizielle Stellungnahmen, Presse- und Agenturmeldungen.
Aktualisiert am 23. Juni 2022