Vom Handelspartner zum Innovationspartner
Wie kann die Industrie in Zeiten von Corona, Digitalisierung und Energiewende überleben? Indem Deutschland und die Niederlande einander auf dem Weg in die Zukunft unterstützen.
Selbst ohne Corona steht die moderne europäische Industrie vor gewaltigen Herausforderungen. Vielen Unternehmen sei klar, dass sie sich nachhaltig wandeln müssten, um überleben zu können, sagt der niederländische Smart-Industry-Botschafter Peter van Harten. „Auf den einzelnen Unternehmer kommt eine Menge zu.“
Um mit der Konkurrenz aus Asien und den Vereinigten Staaten mithalten zu können, müsse die Produktivität in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren um 200 Prozent gesteigert werden, ist van Harten überzeugt. „Wie macht man das aber, wenn man zugleich den CO2-Ausstoß verringern, die Kreislaufwirtschaft stärken und mit weniger Personal neue Kompetenzen aufbauen soll?“
Hinzu kommt, dass die Hightech-Industrie immer stärker datengetrieben ist. „Der Arbeitsbereich für Unternehmer wird also immer komplexer“, sagt van Harten, im Hauptberuf Deutschland-Geschäftsführer von Isah, einem Anbieter von Softwaresystemen für die Industrie. Er verweist dabei auf die Technologie und Kundenanforderungen genauso wie auf die Lieferketten. „Auch gesunde, moderne kleine oder mittelständische Unternehmen können vieles nicht mehr allein.“
Fieldlabs jetzt auch als internationales Modell
Auf Grundlage dieser Schlussfolgerung wurden in den vergangenen Jahren in den Niederlanden 45 Fieldlabs gegründet. „Ein konkretes Arbeitsumfeld, in dem Unternehmen und Wissenschaftler gemeinsam mit neuen Lösungen experimentieren – statt ellenlange Berichte zu schreiben.“
Auch in Deutschland gibt es Initiativen, die Industrie 4.0 in die Praxis überführen. Bereits 2005 hat Professor Detlef Zühlke die Initiative ergriffen und die Smart Factory Kaiserslautern gegründet. Dabei handelt es sich um ein Netzwerk mit rund 50 Akteuren aus Wissenschaft und Industrie. Diese Partner erforschen und entwickeln gemeinsam die Fabrik der Zukunft. Von hier aus wurde im vergangenen Jahr auch das europäische Netzwerk Smart Factory EU gegründet – gemeinsam mit Brainport Industries aus dem niederländischen Eindhoven und Flandres Make aus Belgien. Weitere europäische Länder sollen sich möglichst anschließen.
Inzwischen gibt es auch das erste deutsch-niederländische Fieldlab: AI4DT, das Noord-Brabant und Baden-Württemberg über die Grenze vereint. Brainport Industries und die Plattform Industrie 4.0 arbeiten seit Ende vergangenen Jahres gemeinsam an Projekten im Bereich Künstlicher Intelligenz sowie an einem sogenannten digitalen Zwilling für die Produktion, der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) zugänglich sein soll.
Dieses Projekt stößt gerade in Deutschland auf großes Interesse. „Vielen Unternehmen, insbesondere im Mittelstand, ist bislang gar nicht bewusst, wie sie Künstliche Intelligenz in ihr Geschäftsmodell ein bauen, damit Prozesse optimieren und auch neue datengestützte Produkte anbieten können“, sagt Thomas Jarzombek, Beauftragter für Digitale Wirtschaft und Start-ups im Bundeswirtschaftsministerium. Dabei ist der Mittelstand KI gegenüber aufgeschlossener als die großen Player. Laut einer vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Studie sehen 59 Prozent der KMU den Einsatz von Künstlicher Intelligenz positiv. Bei den deutschen Großkonzernen sind es nur 44 Prozent. Und noch viel wichtiger: 84 Prozent der KMU geben bei der Umsetzung von KI-Vorhaben einem europäischen Partner den Vorzug gegenüber Dienstleistern aus den USA oder Asien. Viel Potenzial also für deutsch-niederländische Kooperationen.
Tests für den Mittelstand
Aber zurück zur Industrie 4.0 – ein deutscher Begriff, der inzwischen international gebräuchlich ist. Das Konzept dahinter hat das Laborstadium längst hinter sich gelassen und hält Einzug in die Werkshallen. Jetzt soll es in Deutschland auch den KMU zugänglich gemacht werden. Unter der Bezeichnung „Mittelstand 4.0“ wurden deshalb mit Unterstützung des Wirtschaftsministeriums bundesweit 26 Kompetenzzentren gegründet. Hier können Unternehmer unter professioneller Begleitung experimentieren und neue Anwendungen erst einmal testen, bevor sie in deren Entwicklung investieren.
Dr. Frank Melzer ist als Vorstandsmitglied der Festo SE & Co. KG – einem international agierenden Spezialisten für Automatisierungs- und Steuerungstechnik– unmittelbar an der Entwicklung einer digitalen Fabrik beteiligt. Darüber hinaus ist er CTO der Plattform Industrie 4.0, dem zentralen Lenkungskreis zur Förderung der Digitalisierung in der Industrie innerhalb und außerhalb Deutschlands. „Intelligente Lösungen sollen zu höherer Produktivität und mehr Wohlstand in der Welt führen“, beschreibt Melzer das Ziel der Initiative. Sie hat daher während des Besuchs des niederländischen Königspaares in Deutschland im Oktober 2018 ein „Joint Agreement“ mit der Plattform Smart Industry unterzeichnet. Dahinter steht das Ziel, die Volkswirtschaften beider Länder durch Digitalisierung und die Verknüpfung der Produktionsprozesse zu stärken.
Drei Fragen an Dr. Frank Melzer, Produkt- und Technologievorstand der Festo SE
Für Smart-Industry-Botschafter van Harten umfasst die Kooperation nicht nur technologische Aspekte: „Wie soll etwas implementiert werden? Wie groß ist die Akzeptanz? Und über welche Kenntnisse verfügen wir im eigenen Haus, also Forschung, Anwendung, und so weiter.“ Ganz konkret kann sich der Niederländer beispielsweise die gemeinsame Arbeit an einer Cloud-Umgebung zur sicheren Nutzung von Daten vorstellen. Auch industrielle Lieferketten könnten ein Ansatzpunkt sein. „Genauso wie das von Deutschland und Frankreich initiierte europäische Cloud-Projekt GAIA-X.“
Mit ihren Fieldlabs könnten die Niederlande dabei gut als „Testland“ für große Partner aus Deutschland dienen, die ihre neuen Entwicklungen ausprobieren möchten. Um das zu vereinfachen, wird zurzeit an einer europäischen „Datasharing-Koalition“ gearbeitet, die darauf abzielt, Daten anhand einheitlicher Standards gemeinsam zu nutzen und auszutauschen.
Gemeinsame Arbeit an Innovationen
In den Niederlanden ist das Interesse an einer Zusammenarbeit mit den deutschen Nachbarn groß. Die niederländische Hightech-Industrie, die im Nachbarland als Topsektor gilt und dort unter dem Namen HTSM (High Tech Sytemen & Materialem) gemeinschaftlich agiert, hat deshalb kürzlich eine eigene Deutschland-Strategie initiiert. Demnach will man nicht nur Handelspartner von Deutschland sein, sondern Technologie- und Innovationspartner werden, sagt Marc Hendrikse, HTSM-Repräsentant.
Für diese Zusammenarbeit spielen die königlichen Besuche in Deutschland eine wichtige Rolle: zum Beispiel der Besuch in Bayern 2016 zum Thema „Intelligente Fabrik“ oder die Handelsmission in Rheinland-Pfalz und im Saarland 2018. Van Harten: „Das verleiht unseren Beziehungen und Partnerschaften eine wichtige Dynamik.“ Letztendlich sollen sie die Handelsbeziehungen auf eine neue Ebene bringen, so der Fachmann. „Die technologischen Initiativen aus China und den USA können für uns alle bedrohlich sein. Eine Zusammenarbeit in Europa ist die beste Alternative und schafft auch ein ganz neues Potenzial für den Handel.“
Text: Bertus Bouwman
Fotos: Adobe, SmartFactory-KLA