„Die Wirtschaft muss inklusiver, innovativer und nachhaltiger werden“
Seit September 2020 steht Ingrid Thijssen an der Spitze des größten niederländischen Arbeitgeberverbands VNO-NCW. Sie will eine neue Wirtschaft: inklusiver, innovativer und nachhaltiger. Für die 53-Jährige ist die Unternehmerschaft der Motor der Energiewende und Deutschland spielt dabei eine bedeutende Rolle.
Frau Thijssen, VNO-NCW will grüner, sozialer, innovativer und nachhaltiger werden. Wie wollen Sie das erreichen?
In den vergangenen Monaten haben wir unseren neuen Kurs „Entrepreneurship for Prosperity“ erarbeitet – in Absprache mit Hunderten Mitgliedern , Experten und nach gründlicher Recherche. Wir entscheiden uns dabei bewusst für einen neuen Kompass, der uns den Weg zu einer Gesellschaft mit Chancengleichheit, ausreichend Arbeit und einem nachhaltigen Lebensumfeld weist.
Und wie wollen Sie das erreichen?
Um unsere ambitionierten Pläne zu verwirklichen, setzen wir auf öffentlich-private Investitionen in Höhe von 20 Milliarden Euro und stellen auch Dutzende konkrete politische Handlungsvorschläge vor. Von Bildungsinvestitionen für mehr Chancengleichheit über eine breitere Beteiligung am Wohlstand bis zu Vorschlägen für ein nachhaltigeres, innovatives Wirtschaftsleben in den Niederlanden. Wir selbst machen den Anfang zum Beispiel mit Praktika, 100.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen für schwervermittelbare Menschen und einem neuen Tax Governance Code. Kurzum, wir arbeiten an allen Fronten.
Der neue Kurs richtet sich auch an Mitarbeiter. Warum schenken Sie dem so viel Aufmerksamkeit?
Wir konzentrieren uns nicht nur auf die Mitarbeiter, sondern auch auf Bildung, Gehälter oder den Abbau von Flexjobs beispielsweise. Wir glauben, dass jeder am Wohlstand teilhaben können sollte und dass die Bürger gleiche Chancen haben sollten. Das ist in unser aller Interesse. Eine grundlegende Bildung ist der entscheidende Faktor für Chancengleichheit, gut ausgebildete Arbeitskräfte und für Glück. Leider nimmt die Bildungsqualität nachweislich ab. Wie Raoul Heertje während unserer letzten Bilderberg-Konferenz sagte: „Mein (berühmter) Vater wäre wütend, wüsste er, dass die Niederlande ihr Bildungssystem verkommen lassen.“
Soziale Inklusion ist also wichtig?
Ja, Inklusion bedeutet auch Einkommenssicherheit. Nichts im Leben ist so einschneidend wie der Verlust des Arbeitsplatzes. Deshalb engagieren wir uns so sehr für den Aufbau einer Infrastruktur, die Menschen nahtlos von einem Job zum anderen bringt, ohne dass sie zwischendurch arbeitslos werden. Das ist auch für Arbeitgeber, die verzweifelt nach Personal suchen, wichtig und bedeutet aber eben auch, dass Unternehmen, denen es gut geht, dies auch melden. Dass es ein soziales Sicherheitsnetz für alle Arbeitnehmer gibt, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Und dass jeder Arbeiter seinen Teil dazu beiträgt. Außerdem ist es wichtig, dass wir den unbefristeten Vertrag attraktiver machen.
„Jeder sollte am Wohlstand teilhaben können und gleiche Chancen haben. Das ist in unser aller Interesse.“
Wie bringen Sie die Bedürfnisse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern unter einen Hut?
Die Bedürfnisse sind nicht widersprüchlich. Auch Arbeitgeber bevorzugen die Zusammenarbeit mit festen Mitarbeitern und Partnern. So baut man gemeinsam Vertrauen auf und den Unternehmen geht es nachweislich besser. Wir wollen, dass die Niederlande ein Unternehmerland sind, in dem die Gründung und das Wachstum von Unternehmen der Motor der Wirtschaft sind. Wenn wir zusätzlich auch unsere Investitionen verstärken, werden wir unsere Sozialeinrichtungen auch in Zukunft bezahlen können. Eine aktuelle Studie der Rabobank zeigt, dass wir mit dem VNO-NCW-Investitionsplan den Pro-Kopf-Wohlstand in den kommenden neun Jahren um etwa 20 Prozent steigern können. Davon profitieren alle – Arbeitgeber wie Arbeitnehmer.
Sie sind seit September 2020 VNO-NCW-Vorsitzende. Was war der wichtigste Grund für Sie, diese Position anzunehmen?
Ich liebe die Niederlande und setzte mich gerne dafür ein, die Niederlande besser und schöner zu machen. Alle Gespräche, die ich mit Unternehmern führe, geben mir die nötige Energie dafür. Die Corona-Krise macht dies noch wichtiger. Es ist eine herausfordernde Zeit.
In Ihrer vorherigen Tätigkeit bei Alliander haben Sie sich intensiv mit der Energiewende beschäftigt. Welche Rolle spielt VNO-NCW bei der Energiewende?
Für uns hat eine klimaneutrale, zirkuläre Gesellschaft Toppriorität, wie Sie an unserem neuen Kurs sehen können. Und dafür müssen wir jetzt handeln, in hohem Tempo große Sprünge machen statt „stets mehr vom Gleichen“ zu tun. Die Wirtschaft ist dabei der Motor der Energiewende. Unsere Industrie spielt national und international eine wichtige Rolle. Wird sie nachhaltiger, zieht sie die ganze Wirtschaft mit. VNO-NCW kämpft dabei für die nötigen Rahmenbedingungen: dass etwa die Energieinfrastruktur rechtzeitig zur Verfügung steht genauso wie eine angemessene Förderung. Wir müssen Unternehmen nicht extra zu mehr Nachhaltigkeit anhalten. Entsprechende Pläne gibt es schon genug – selbst weitreichende Pläne für die Kreislaufwirtschaft, den nächsten Schritt.
Wie sehen Sie bei der Energiewende die Rollenverteilung von Politik und Wirtschaft?
Vor der großen Herausforderung, die Energiewende zu meistern, stehen wir gemeinsam. Wir müssen jetzt nicht nur in Zielen denken, sondern eine planmäßige Herangehensweise entwickeln. Hierbei brauchen wir den Staat, der den Prozess mit den richtigen Gesetzen und Vorschriften steuern und erleichtern muss. Auch Staatsunternehmen wie Gasunie und TenneT spielen eine wichtige Rolle beim Aufbau der dringend benötigten Infrastruktur für CO₂, Wasserstoff, grünes Gas und Strom. Hier muss die Regierung zeigen, dass sie es mit der Nachhaltigkeit ernst meint.
Wie kann Ihrer Meinung nach die Zusammenarbeit mit Deutschland helfen?
Deutschland ist und bleibt unser wichtigster Handelspartner. 2019 haben die Niederlande mit Deutschland insgesamt 193 Milliarden Euro erwirtschaftet. Und der Handel mit unseren östlichen Nachbarn bietet noch so viele Ausbau-Möglichkeiten. Deshalb ist der deutsch-niederländische Energie- und Innovationspakt so wichtig. Wir haben ihn kürzlich unterzeichnet, um auf einem so essenziellen Gebiet wie Innovation noch enger zusammenzuarbeiten. Hier muss unser Wachstum herkommen. Wissen ist der neue Rohstoff – für unser Auskommen genauso wie für Erneuerung und Nachhaltigkeit.
Was sind die nächsten Schritte für VNO-NCW in diesem Pakt?
Gemeinsam mit unseren Partnern wie dem Verband der niederländischen Technologieindustrie FME und dem Bundesverband der Deutschen Industrie arbeiten wir an konkreten Aktionen zu wichtigen Innovationsthemen wie Smart Industry, Energie, Mobilität, Pflege und Schlüsseltechnologien. Jedes Thema bietet viele Chancen zusammenzuarbeiten und so unsere Wettbewerbsposition zu stärken. Ein gutes Beispiel ist das binationale Fieldlab für Künstliche Intelligenz.
Wir befinden uns immer noch in einer Krise. Was ist Ihr wichtigster Rat für Unternehmer?
Viele Unternehmer machen eine sehr schwierige Zeit durch und warten nicht unbedingt auf meinen Rat. Sie brauchen Luft zum Atmen und Klarheit. In den Gesprächen, die ich zum Beispiel mit Unternehmern aus der Veranstaltungs-, Gastgewerbe- und Reisebranche führe, fällt mir auf, dass sie trotz dieser schwierigen Krise immer Möglichkeiten und Chancen sehen. Ich finde diese Kreativität, diesen Kampfgeist toll.
Allerdings muss ihnen der Raum dazu gegeben werden…
Ganz genau! Deshalb ist es so wichtig, dass wir diesen Unternehmern helfen und sie jetzt unterstützen. Unternehmen und Branchen haben in den letzten Wochen intensiv an intelligenten Wiedereröffnungsplänen gearbeitet. Schauen wir uns an, was wir tun können. Wir müssen auch sehr intensiv daran arbeiten, wie wir den Unternehmern mit den enormen Schulden und dem schwindenden Eigenkapital helfen können. Steuerschulden müssen über einen längeren Zeitraum verteilt werden. Wir müssen an nachrangigen Darlehen arbeiten. Es gibt noch viel zu tun, damit wir investitionsfreundlich aus der Krise kommen.
Text: Hendrike Oosterhof
Fotos: VNO-NCW