„In Deutschland herrscht ein falsches Grundverständnis zum Thema Datenschutz“
Sein erstes Unternehmen gründete er mit 18 Jahren, inzwischen ist Frank Thelen einer der bekanntesten Tech-Investoren Deutschlands. Der meinungsstarke Bonner ist ein gefragter Experte, wenn es um Digitalisierung geht und mit seiner Beteiligungsgesellschaft Freigeist Capital immer auf der Suche nach dem nächsten großen „Ding“ – auch in den Niederlanden. Wir sprachen mit dem 44-Jährigen über die Chancen der Krise, und warum grenzüberschreitende Zusammenarbeit elementarer denn je ist.
Interview: Ruth van Doornik Fotos: Freigeist Capital
Herr Thelen, jeder spricht derzeit vom längst fälligen Digitalisierungsschub durch die Pandemie. Beim Thema E-Health ist das bereits bemerkbar. Wie sieht es bei den Sektoren Smart Industry, Energie und Mobilität aus?
Jeder Sektor profitiert in Sachen Digitalisierung von den Folgen der Pandemie. Das liegt allein schon daran, dass Mitarbeiter im Homeoffice gezwungen sind, ihre Arbeitsprozesse zu digitalisieren. Je fundierter die digitale Basis eines Unternehmens ist, desto besser lassen sich die Chancen neuer Technologien wie Künstliche Intelligenz, Internet of Things und Co. nutzen. Der Mobilitäts-Sektor hat noch einen zusätzlichen „Vorteil”: Da viele Prozesse heruntergefahren werden mussten, haben Unternehmen gerade jetzt die Möglichkeit, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die liegen geblieben sind. Daher mein Appell an alle Industrien, die besonders unter den Folgen der Krise leiden: Nutzt die Zeit, um euch weiterzuentwickeln.
Aber werden Betriebe angesichts drastischer Umsatzeinbrüche überhaupt in neue Technologie investieren?
Das kommt auf das Mindset der Unternehmen an. Meine Empfehlung lautet: Seid mutig und investiert gerade jetzt. Neue Technologien ermöglichen Automatisierung – und dies bedeutet Kostenreduktion. Diejenigen, die nun die Chancen erkennen, werden bei der nächsten Krise davon profitieren. Die aktuelle Situation ist ein Weckruf für viele Unternehmen.
Wie stehen Deutschland und die Niederlande in Sachen Digitalisierung im weltweiten Vergleich da?
Die Niederlande auf jeden Fall bedeutend besser als Deutschland. Hier gibt es ein funktionierendes E-Government, das von der Bevölkerung gut angenommen wird. Davon können wir in Deutschland nur träumen. Wenn es um die Bereitschaft geht, neue Technologien als Motor für wirtschaftlichen Wandel zu einzusetzen, liegen die Niederlande laut dem IMD World Digital Competitiveness Ranking auf Platz 6, Deutschland hingegen auf Platz 17. Viele Deutsche sehen in der Digitalisierung leider noch immer eine Bedrohung.
Das zeigt sich auch bei der Diskussion um eine Corona-App. Woher kommt die Sorge?
In Deutschland herrscht ein falsches Grundverständnis zum Thema Daten und Datenschutz. Natürlich müssen wir sicherstellen, dass unsere persönlichen Daten sicher sind, aber im Falle der kritisierten Corona App lässt sich dies zu 100 Prozent garantieren – deshalb ärgert mich die grundlose Ablehnung mancher Menschen. Datenschutz steht hierzulande an erster Stelle, die Angst vor einem Überwachungsstaat ist historisch bedingt riesig. Dennoch nutzen wir alle täglich Google, Facebook und Amazon.
Was entgegnen Sie also Kritikern von Big Data?
Ich kann ihnen nur sagen: Versteht die Risiken und befasst euch auch mit den vielen Vorteilen. Big Data könnte uns medizinische Durchbrüche ermöglichen und viele Menschenleben retten. Es kann unseren Verkehr flüssiger, unsere Straßen sicherer und sämtliche Prozesse effizienter machen. Bevor wir uns pauschal gegen Daten aussprechen, sollten wir uns dieser Möglichkeiten bewusst werden.
Mit Blick auf Schlüsseltechnologien drohte Europa schon vor der Pandemie den Anschluss zu verlieren. Was müssen Politik und Wirtschaft jetzt tun?
Starke Schlüsselindustrien, herausragende Ingenieure, erstklassige Tech-Unis: Wir haben in Europa alle nötigen Kompetenzen, um in den Bereichen KI, 3D-Druck oder Blockchain mitzuspielen und globale Champions aufzubauen. Was uns fehlt, sind die politischen Rahmenbedingungen und das nötige Kapital. Uns fehlen Sandboxes, also politisch gelockerte Zonen, in denen beispielsweise ein Blockchain-Startup agieren kann. Gerade der KI-Bereich ist so hart umkämpft, dass wir deutlich höhere Summen investieren müssen, wenn wir mit den USA und China mithalten wollen. Wir reden hier über Summen, die die Venture Capital-Branche alleine unmöglich aufbringen kann. Es braucht Kapital von den wirklich großen Geldtöpfen. Mit zwei bis drei Prozent von beispielsweise Renten- oder Krankenversicherungen wäre dem Technologiestandort Europa schon sehr geholfen.
Wie wichtig ist es dabei, über die Landesgrenzen zu blicken und gemeinsam an Innovationen zu arbeiten?
Extrem wichtig. Wir haben ein gutes Wertesystem. Dies gilt es global zu vertreten, um auch als ebenbürtiger Verhandlungspartner gegenüber den USA und China agieren zu können. Hierfür brauchen wir eine starke, europäische Wirtschaft, und die können wir nur erhalten, wenn wir jetzt progressiv gemeinsam auf Technologie setzen. Dazu muss die Zusammenarbeit zwischen Forschungseinrichtungen und Firmen europaweit koordiniert und das Gesellschafts-, Handels- und Steuerrecht vereinheitlicht werden. Damit könnte die grenzüberschreitende Gründung und Finanzierung von Startups radikal vereinfacht und ein Gründungsboom entfesselt werden.
Die vergangenen Wochen haben auch gezeigt, wie entscheidend kurze Lieferketten sind. Wird der Produktionsstandort Europa wieder an Bedeutung gewinnen?
Ich glaube, dass die Entwicklungen im Bereich 3D-Druck lange Lieferketten zukünftig entlasten könnten. Die Technologie wird immer besser, die Produktionskosten werden sinken und schon bald wird es effizienter sein, sich einige Teile vor Ort zu drucken.
Investieren in Zeiten der Krise: Hat sich Ihr Fokus als Investor dadurch verändert?
Nein, im Gegenteil. Wir sind mehr denn je überzeugt davon, dass es neue Technologien braucht, um zukünftige Herausforderungen besser meistern zu können. Die Corona-Krise bietet hier gute Beispiele: Durch mehr Daten und günstigere, zuverlässigere Tests könnten wir bessere Entscheidungen treffen – faktenbasiert und möglichst genau. Durch Fortschritte im Bereich Biotech werden wir künftig schneller einen Impfstoff entwickeln können, da speziell entwickelte KI-Anwendungen den dafür nötigen Prozess simulieren und so mehr Tests parallel durchführen werden, als das heutzutage Labore können.
„Wir brauchen eine starke, europäische Wirtschaft, und die können wir nur erhalten, wenn wir jetzt progressiv gemeinsam auf Technologie setzen.“
Frank Thelen
Auf der Suche nach spannenden Unternehmen schauen Sie auch über die Grenze. Wie spüren Sie die auf?
Wir investieren in disruptive Technologie-Startups in der Frühphase. Dafür sind wir in engem Austausch mit führenden Tech-Unis und auch regelmäßig an der TU Delft, um potenzielle Gründer zu treffen und interessante Forschungen im Auge zu behalten. Was die Niederlande für uns so attraktiv macht, ist die agilere Regierung. Hier erfahren wir weitaus weniger Widerstand, wenn es darum geht, Innovationen auf die Straße zu bringen.
Auch beim Thema Gründen sind die Niederländer aktiver. Wie können Deutsche besser stimuliert werden?
Uns Deutschen fehlt oft der Mut, Dinge konsequent umzusetzen. An den Unis schlummern garantiert viele Ideen, aber es braucht eben auch das nötige Mindset, um diese Projekte umzusetzen. Was wir brauchen, sind Vorbilder. Einen deutschen Elon Musk oder Jeff Bezos. Gründer, die vormachen, wie es funktionieren kann. Ich hoffe, dass auch in unserem Portfolio ein paar Kandidaten dabei sind, die zukünftig als solche Vorbilder dienen könnten.
Sie sind Tesla-Fan, am Münchner Flugtaxi-Start-up Lilium beteiligt und haben jüngst ins niederländische Start-up Hardt Hyperloop investiert. Was fasziniert Sie an der Mobilität der Zukunft?
Angesichts des Klimawandels liegt es in unserer Verantwortung auf emissionsarme Mobilitätskonzepte umzusteigen. Außerdem wird der Bedarf nach Mobilität immer größer und durch neue Entwicklungen entsteht hier gerade unglaubliches Optimierungspotenzial. Wenn wir unseren Lebensradius dank eines Lilium-Jets oder Hyperloops um mehrere 100 Kilometer erweitern können, entschärft das die Wohnsituation in Großstädten und wirkt sich extrem positiv auf unsere Klimabilanz aus. Mithilfe neuer Technologien können wir einen gewaltigen Beitrag zur Nachhaltigkeit und Lebensqualität leisten. Deshalb brenne ich so für diese Themen.
Und wie reisen wir in zehn Jahren von A nach B?
Für Kurzstrecken hoffentlich mit dem Lilium Jet oder dem E-Auto, aber bitte auf keinen Fall mehr mit einem Verbrenner. Für Mittelstrecken mit dem Hyperloop. Bei Langstrecken sehe ich Wasserstoff als das sinnvollste Antriebsmittel, weil es aufgrund seines geringen Volumens und Gewichts sowohl Flugzeuge als auch Schiffe über längere Strecken in Bewegung halten kann. Aber auch Batterien werden stets effizienter, umweltverträglicher und können somit immer mehr Anwendungsbereiche finden – auch in der Mobilität.
Herr Thelen, wagen Sie einen Ausblick: Wie wird das Post-Corona-Leben in Europa aussehen?
Zunächst: Die beste Möglichkeit, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie zu gestalten – dies versuchen wir mit Freigeist. Ich hoffe, dass Corona uns wachgerüttelt hat. Europa war in meinen Augen lange im Wohlstandsschlaf und zu träge, um progressive Entscheidungen zu treffen. Es ging uns lange Zeit zu gut. Jetzt sind wir gezwungen, uns zu bewegen. Ich hoffe, dass die Krise Europa zusammenbringt und wir die Chance nutzen, uns in der ein oder anderen Industrie wieder an der Spitze zu platzieren.
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Freigeist Capital in Zahlen
- Gründungsjahr: 2017
- Zahl der Mitarbeiter: 10
- Investment-Fokus: Mobilität, Energie, Automatisierung, Weltraumtechnik, Food-Tech und Materialforschung
- Investitionen seit Gründung: 25
Frank Thelen (44)
Nebenaktivitäten:
- Leitet zusammen mit Staatsministerin Dorothee Bär das Innovation Council der Bundesregierung zum Thema Digitalisierung
- Autor der Bücher XDNA: Das Mindset der Zukunft und Startup DNA
Vorige Funktionen:
- Seriengründer
- Juror der TV-Show „Die Höhle des Löwen“